Auch ist es jetzt ruhig. Nicht still, nur eben ruhig. Lebende Stille. Wie die Menschen, so erfasst der Bewe- gungsdrang auch die Tiere und die Pflanzen. Fauna und Flora hatten weniger Grund, nervös zu sein, als sich die Menschen den Planeten noch nicht Untertan gemacht hatten. Vor dem Anthropozän war alles ruhiger, die Gefahren lokal, nicht global. Auch die Menschen waren weniger nervös. Sie waren ruhiger, weil sie bessere Gedanken hatten. Dass die Menschheit ihre Fähigkeit, sich selbst auszulöschen, Zivilisation nennt, ist das zu lösende Zivilisationsrätsel. Vielleicht klopft der Specht die Antwort darauf ständig vor sich hin, in der Hoffnung, wir verstünden ihn eines Tages, weiß aber wohl, dass er lediglich einem Falken oder Uhu seine Lage preisgibt.
Wo hast du deine Mutter gefunden? frage ich Andri. Beim Holunder natürlich, antwortet Sarhat für ihn. Sarhat hat seinen Vater verloren, als er dreizehn war.
Er verschwand in einem türkischen Gefängnis. Als er wieder herauskam, erkannte er seinen Sohn nicht mehr. Dar- auf verdorrte er. Das ist der richtige Ausdruck: Er trank nichts mehr, aß nichts mehr, konnte sich bald an nichts mehr erinnern, schließlich nichts mehr lieben. Am Tag, als er starb, flüchtete Sarhat. Die Mutter und seine Geschwister (wie viele er hat, weiß ich nicht) ließ er zurück. Die Schweiz nahm ihn auf.
Hast du bemerkt?, fragt Sarhat. Ich habe Baum siebzig Prozent von Efeu befreit.
Habe ich nicht, sage ich.
Beim Holunder, sagt nun auch Andri. Mama hat mir stets gesagt, verlieren wir uns, geh zum Holunder. Dort werde ich erscheinen.
Hat sie wirklich erscheinen gesagt?
Ganz sicher, sagt Andri.
Ganz sicher, sagt auch Sarhat, weil er es so gern sagt. Wo aber war sie? Weshalb kam sie erst jetzt? Und wo
ist sie jetzt? Ich versuche, durch das Wäldchen, durch die Zypresse und die Fichte, durch den dicht wuchernden Lorbeer den Holunder zu sehen, doch gelingt es mir nicht einmal, ihn von hier aus zu erahnen.
Meine Mutter hat wahnsinnig viel zu tun, sagt Andri stolz. Ich bin eine Handvoll, sagt sie immer. Dann ist sie auch noch Partnerin in einer Anwaltskanzlei. Füllt für andere Formulare aus. Hockt im Großen Rat. Ich weiß (grinst er), man sagt «sitzt», sage ich aber «hockt», nervt sie das so, dass sie alles unterbricht und intensiv auf mich einredet. Dann gehört meine Mutter ganz mir. Sie schreibt eine Kolumne in den Nachrichten. Und am Abend kocht sie für uns. Vater ist ja nie da. Schon gar nicht beim Kochen. Dann verschwinde ich eben. Sie hat Angst, dass ich wie Vater werde. Auch mit dir hat sie alle Hände voll zu tun, Herr Lion. Mit deiner blöden Brücke. Kann die denn wirklich wieder ganz werden, wenn meine Mutter so viel Papier ausfüllt? Du siehst also, meine Mutter ist überall. Beantwortet das deine Frage? Ich, fährt Andri ohne Atem zu holen fort und wölbt die Brust wie eine Singdrossel, ich will etwas ganz anderes werden. Auch einer, der überall ist, nicht aber einer, der Papier produziert, weil andere Mist gebaut haben, sondern einer, der vielleicht mit Holz arbeitet. Schreiner! Oder einer, der sich um Pflanzen kümmert. Gärtner! Einer wie Sarhat möchte ich werden.
Eigentlich bin ich Steinhauer, sagt Sarhat und bläst seinerseits die Brust auf. Gelernt habe ich Eisen hauen, wie sagt man?
Eisenhauer, sagt Andri.
Schlosser, sage ich, der dies zum ersten Mal hört. Ganz sicher, Schlosser.
Das will ich auch werden, sagt Andri.
Viele Pfade habe ich gebaut. Mit Steinen.
Pfadbauer, sagt Andri.
Steinleger, sage ich.
Legst du Pfade alle hintereinander, sagt Sarhat, dann so lange wie Bosporusbrücke.
Dazu sage ich nichts.
Ich war auch Keramikkitter, Fleckenreiniger, Schlangenhäuter, Gassenhauer, Wasserschöpfer, Laufbursche für Schieberbande ...
Hundekotaufleser für den Sultan, werfe ich ein.
Nein, das nicht. Du bist lustig, Herr Lion, sagt Sarhat, unsere Sultane haben keine Hundekotaufleser, weil sie keine Hunde haben.
Du kannst alles, zwitschert Andri immer ungehaltener.
Nicht alles, sagt Sarhat. Vieles. Ich bin auch Mechaniker. Und Schlächter.
Metzger, sage ich, nicht Schlächter.
Und Elektriker. Habe elektrische Gartenschere ganz gemacht, Lion schon wollte wegschmeißen. Dabei war bloß Kabel nicht gekabelt.
Das habe ich ja gesagt, sage ich mürrisch.
Schere jetzt aufgeladen, sagt Sarhat.
Elektriker, Mechaniker, Pilot!
Und wegschmeißen wollte ich sie auch nicht, sage ich.
Nein, sagt Sarhat. Nicht Pilot.
Wie alt bist du denn? Alt.
Wie alt? Zweiundvierzig. Das ist nicht alt.
Zu alt für Pilot.
Meine Mutter füllt für jemanden Formulare aus, der mit siebenundvierzig Kranpilot geworden ist.
Das nicht richtiger Pilot. Nur Kran!
Andri seufzt. Nur ein Mädchen will ich nicht werden.
Ganz sicher nicht, sagt Sarhat. Und fügt hinzu, Weißt du, ich habe drei. Eine gescheiter wie andere.
Für ihr Alter, sage ich.
Und hübscher wie andere. Obwohl Mittlere grade Handvoll.
Der Garten, sage ich. Es ist Zeit.
aus Der Boden unter den Füssen: Eine Fantasie (2019)
Wo hast du deine Mutter gefunden? frage ich Andri. Beim Holunder natürlich, antwortet Sarhat für ihn. Sarhat hat seinen Vater verloren, als er dreizehn war.
Er verschwand in einem türkischen Gefängnis. Als er wieder herauskam, erkannte er seinen Sohn nicht mehr. Dar- auf verdorrte er. Das ist der richtige Ausdruck: Er trank nichts mehr, aß nichts mehr, konnte sich bald an nichts mehr erinnern, schließlich nichts mehr lieben. Am Tag, als er starb, flüchtete Sarhat. Die Mutter und seine Geschwister (wie viele er hat, weiß ich nicht) ließ er zurück. Die Schweiz nahm ihn auf.
Hast du bemerkt?, fragt Sarhat. Ich habe Baum siebzig Prozent von Efeu befreit.
Habe ich nicht, sage ich.
Beim Holunder, sagt nun auch Andri. Mama hat mir stets gesagt, verlieren wir uns, geh zum Holunder. Dort werde ich erscheinen.
Hat sie wirklich erscheinen gesagt?
Ganz sicher, sagt Andri.
Ganz sicher, sagt auch Sarhat, weil er es so gern sagt. Wo aber war sie? Weshalb kam sie erst jetzt? Und wo
ist sie jetzt? Ich versuche, durch das Wäldchen, durch die Zypresse und die Fichte, durch den dicht wuchernden Lorbeer den Holunder zu sehen, doch gelingt es mir nicht einmal, ihn von hier aus zu erahnen.
Meine Mutter hat wahnsinnig viel zu tun, sagt Andri stolz. Ich bin eine Handvoll, sagt sie immer. Dann ist sie auch noch Partnerin in einer Anwaltskanzlei. Füllt für andere Formulare aus. Hockt im Großen Rat. Ich weiß (grinst er), man sagt «sitzt», sage ich aber «hockt», nervt sie das so, dass sie alles unterbricht und intensiv auf mich einredet. Dann gehört meine Mutter ganz mir. Sie schreibt eine Kolumne in den Nachrichten. Und am Abend kocht sie für uns. Vater ist ja nie da. Schon gar nicht beim Kochen. Dann verschwinde ich eben. Sie hat Angst, dass ich wie Vater werde. Auch mit dir hat sie alle Hände voll zu tun, Herr Lion. Mit deiner blöden Brücke. Kann die denn wirklich wieder ganz werden, wenn meine Mutter so viel Papier ausfüllt? Du siehst also, meine Mutter ist überall. Beantwortet das deine Frage? Ich, fährt Andri ohne Atem zu holen fort und wölbt die Brust wie eine Singdrossel, ich will etwas ganz anderes werden. Auch einer, der überall ist, nicht aber einer, der Papier produziert, weil andere Mist gebaut haben, sondern einer, der vielleicht mit Holz arbeitet. Schreiner! Oder einer, der sich um Pflanzen kümmert. Gärtner! Einer wie Sarhat möchte ich werden.
Eigentlich bin ich Steinhauer, sagt Sarhat und bläst seinerseits die Brust auf. Gelernt habe ich Eisen hauen, wie sagt man?
Eisenhauer, sagt Andri.
Schlosser, sage ich, der dies zum ersten Mal hört. Ganz sicher, Schlosser.
Das will ich auch werden, sagt Andri.
Viele Pfade habe ich gebaut. Mit Steinen.
Pfadbauer, sagt Andri.
Steinleger, sage ich.
Legst du Pfade alle hintereinander, sagt Sarhat, dann so lange wie Bosporusbrücke.
Dazu sage ich nichts.
Ich war auch Keramikkitter, Fleckenreiniger, Schlangenhäuter, Gassenhauer, Wasserschöpfer, Laufbursche für Schieberbande ...
Hundekotaufleser für den Sultan, werfe ich ein.
Nein, das nicht. Du bist lustig, Herr Lion, sagt Sarhat, unsere Sultane haben keine Hundekotaufleser, weil sie keine Hunde haben.
Du kannst alles, zwitschert Andri immer ungehaltener.
Nicht alles, sagt Sarhat. Vieles. Ich bin auch Mechaniker. Und Schlächter.
Metzger, sage ich, nicht Schlächter.
Und Elektriker. Habe elektrische Gartenschere ganz gemacht, Lion schon wollte wegschmeißen. Dabei war bloß Kabel nicht gekabelt.
Das habe ich ja gesagt, sage ich mürrisch.
Schere jetzt aufgeladen, sagt Sarhat.
Elektriker, Mechaniker, Pilot!
Und wegschmeißen wollte ich sie auch nicht, sage ich.
Nein, sagt Sarhat. Nicht Pilot.
Wie alt bist du denn? Alt.
Wie alt? Zweiundvierzig. Das ist nicht alt.
Zu alt für Pilot.
Meine Mutter füllt für jemanden Formulare aus, der mit siebenundvierzig Kranpilot geworden ist.
Das nicht richtiger Pilot. Nur Kran!
Andri seufzt. Nur ein Mädchen will ich nicht werden.
Ganz sicher nicht, sagt Sarhat. Und fügt hinzu, Weißt du, ich habe drei. Eine gescheiter wie andere.
Für ihr Alter, sage ich.
Und hübscher wie andere. Obwohl Mittlere grade Handvoll.
Der Garten, sage ich. Es ist Zeit.
aus Der Boden unter den Füssen: Eine Fantasie (2019)