– war das ein Gaudi im Hätterenwald! – man muss schon von allen Wegen abkommen, um den Hochsitz, wo sich der Jäger am Ehesten zeigt, gut ins Visier zu bekommen – man muss in aller Herrgottsfrühe aufstehen und Geduld haben – er erscheint mit dem ersten Tageslicht – wir liegen schussbereit im Gebüsch, als einer erscheint – er schaut sich um, ob ihm ein anderer Jäger zuvorgekommen ist, sein geschultertes Gewehr ragt aus ihm heraus wie ein Horn – so hat er die Hände für die Sprossen frei – einsilbige Schimpfwörter ausstossend, zieht sich der meist etwas beleibte Jäger recht behend Sprosse für Sprosse zur Hochsitzplattform hoch – bevor er sich dort mit einer Geduld, die er weder seinem Weibchen noch seinem Nachwuchs entgegenbringt, auf die Lauer legt, öffnet er ein flaches Fläschchen aus Metall und nimmt einen kräftigen Schluck – das ist der Augenblick, in dem man den Jäger am Leichtesten erwischt – Stieglitz drückte den Abzug der Winchester, die er seinem Vater entwendet hatte und die ich nicht einmal berühren durfte, und donnerte seine Ladung dem Jäger entgegen – erfolgreich, da es sogleich vor Schmerz und Überraschung und Wut vom Hochsitz röhrte! – der Getroffene mag einen Augenblick lang geglaubt haben, seine Beute habe ihn angegriffen – Peng! schiesst der hinterhältige Hase aus einem Busch, Paff! erlegt ihn feige das Reh von hinten! Jäger sind einfach gestrickte Wesen, teilen die Welt in lebend-oder-tot ein – was der Jäger nicht kennt, auf das schiesst er, doch unser Jäger begriff rasch, dass nicht der Fuchsbestand auf ihn geschossen hatte, sondern zwei Halbstarke, deren Kichern ihr Versteck verriet – er schwang sich auf die Hochsitzleiter – jetzt sahen wir, wie stark er blutete: aus dem Oberschenkel, was ein gutes Zeichen war, denn wir wollten nur eine Lektion erteilen – in den Filmen, die wir uns ansahen, sprach starkes Bluten stets für eine Fleischwunde, welche die hübsche Freundin verbindet, die sich auf diese Weise als erfahrene Krankenschwester zu erkennen gibt – und es floss, das Blut: aus der Hose, über die Schuhe und die Hochsitzleiter auf die Wiese vor dem Hätterenwald! – seine Blutspur ging dem Jäger voran, nicht umgekehrt der Jäger seiner Blutspur – wir lachten, Stieglitz und ich – doch als wir merkten, dass ihn sein angeschossener Gang dennoch rasch in unsere Richtung brachte, verging es uns – zwar humpelte er mit seinem verletzten Oberschenkel, doch humpelte er rasch, sprinthumpelte geradezu – wir in die Wiese – da sahen wir, dass zwischen uns und unserem Jäger an einem Baum ein Moped lehnte – „Wir trennen uns!“, schrie Stieglitz, der Verräter, und zog sich in den vor einem Moped sichereren Hätterenwald zurück – ich stand exponiert – mir blieb nur weiter in die Wiese – der Jäger, schon auf seinem Moped, wählte mich und riss es mit einem jähen Röhren in meine Richtung – keine fünfzig Meter trennten uns, die Wiese verlief ebenerdig, der übliche filigrane Baum einsam am Horizont –plötzlich hielt er an – ich ebenso – er legte auf mich an – ich, eine beweglose Silhouette vor dem Morgenhimmel – der Schuss aber kam nicht – was ging in dem Tot-oder-Lebendig-Hirn des Jägers vor? – da sah ich Stieglitz hinter ihm, er stand jetzt wieder auf dem Pfad – so gründlich hatte er mich verraten, dass er sehen wollte, wie ich vom Jäger erlegt würde – ich sah mich schon kopfüber von den Jägerschultern baumeln, sah mich im Kofferraum seines Autos, obwohl er mit dem Moped unterwegs war, sah mich ausgeweidet in Plastikbeutel abgefüllt im Tiefkühler, sah mich als Weihnachtsbraten zubereitet – war es schon bald wieder Weihnachten? – ich schloss die Augen, wie immer griff Stieglitz ein – schrie – sodass der Jäger herumwirbelte, von mir abliess, und in den Hätterenwald schoss – schoss und fiel – lag röhrend da, zuckend, waidwund wie ein gefälltes Reh – doch auch des Jägers Beute lag –Stieglitz war gefallen – in den Tod? – in der Filmsprache, die ich später an seiner Statt büffelte, nennt man das Foreshadowing, etwas Kleines wirft seinen Schatten voraus auf etwas vergleichbar Grösseres: früher kleiner Tod zeigt den späteren grossen Tod an, das gibt dem Film Struktur, dem aufmerksamen Zuschauer etwas zum Erraten – intelligentere Zuschauer können sich über den dümmsten Film begeistern, wenn sie auf diese Weise recht bekommen, dümmere Zuschauer begeistert in der Regel schon die Tatsache, dass gestorben wird – mich aber hatte auf der Hätterenwaldwiese der Mut gepackt – war das eine Freundschaft! – Stieglitz und ich! – also doch: er hatte mein Leben gerettet! – von nun an schuldete ich ihm alles! – ich schritt auf den liegenden Jäger zu, der jetzt sein Gewehr nicht mehr hielt, sondern sich an ihm festklammerte, schritt an ihm vorbei, sprang auf den Pfad, wo mich Stieglitz grinsend und heilgesund erwartete – ab in den Wald mit ihm – durchs wilde Hätterenwaldistan! – vom Jäger hörten wir nie wieder etwas, es muss ein Wilderer gewesen sein – oder aber ein Jäger darf nicht zugeben, angeschossen worden zu sein – schon gar nicht von Halbstarken, die er erst für Wild gehalten hat – wir begannen in der Stadt die Legende von den zurückschiessenden Tieren zu verbreiten – flüsternd erzählten wir die selbstverfasste Ballade vom Füsilier Has nach dem Reimmuster von Schillers Glocke, die wir in der Schule auswendig zu lernen hatten, die Ballade vom HD Bambi nach dem des Erlenkönigs und die Ballade vom ballerenden Biber in schnitzelbänkelnden Freiversen – wer uns nicht glaubte, den schickten wir zum Hochsitz im Hätterenwald, wo das üppig vergossene Jägerblut unser klebriger Zeuge war – bald darauf kam es zur Hasenschwemme, zur Rehplage, die Füchse zogen durch die Stadt, es wurde von schafereissenden Wölfen, von honigstehlenden Bären berichtet –
aus Das Steinauge
aus Das Steinauge